Es sind immer die besonderen Vorfälle, die für Aufmerksamkeit sorgen: Wenn zum Beispiel in der Silvesternacht Mitarbeitende in der Notaufnahme eines Klinikums in Berlin angegriffen werden oder Rettungskräfte mit Böllern beworfen werden, ist dies bundesweit ein Thema. Und das zu Recht. Nun kann man sagen, dass Berlin weit weg ist und so etwas in einem kleinen Haus wie hier in Wehrda doch nicht passiert. Doch: Gewalt im Krankenhaus kommt leider häufiger vor, als man denkt – und sie hat auch viele Formen, die nicht erst bei Schlägen oder Tritten anfangen.
Vom Gesetz ist klar vorgegeben: Kliniken sind zum Gewaltschutz verpflichtet und müssen Konzepte entwickeln, um möglichem Missbrauch oder Gewalt vorzubeugen, alle Formen davon zu erkennen, darauf zu reagieren und sie zu verhindern. Das gesetzliche Ziel: Vulnerable Patientengruppen, wie beispielsweise Kinder, Hilfsbedürftige oder ältere Personen, sollen besser geschützt werden.
Gewalt lauert überall
Diesem Ziel fühlen sich die Mitarbeitenden in unserem DGD Diakonie-Krankenhaus Wehrda ohnehin verpflichtet. Aus gutem Grund lauten unsere Unternehmenswerte „fachlich kompetent, christlich engagiert, herzlich zugewandt“. Doch steht für unseren gesamten, diakonisch geprägten Verbund mit seinen rund 3.900 Mitarbeitenden fest: Wir wollen ein Schutzkonzept, das über die gesetzlichen Vorgaben hinaus reicht. Denn unser Ziel ist es, nicht nur, die vulnerablen Patientengruppen vor jeglicher Form von Gewalt zu schützen – sondern alle Menschen. Also alle Patienten und Patientinnen, alle Besucherinnen und Besucher – und selbstverständlich auch alle Mitarbeitenden. Denn es kann überall Gewalt lauern.
Also erstellten Heike Anders und Madeline Boß vom Qualitätsmanagement (QM) der DGD Stiftung federführend ein umfassendes Konzept. Zunächst ging es darum, die unterschiedlichen Formen von Gewalt zu definieren. „Außerdem haben wir geschaut, welche Präventionsmaßnahmen es in den einzelnen Einrichtungen des Verbunds bereits gibt“, erläutert Heike Anders. Und das nicht nur konzeptionell, „sondern auch technisch, baulich oder personell“. In der Konsequenz hat das Team nach einer Risiko-Analyse erarbeitet, wo Verbesserungen möglich sind.
Kein leichtes Unterfangen, denn unter dem Dach unseres Verbunds gibt es somatische Häuser wie das Diakonie-Krankenhaus Wehrda ebenso, wie Fachkliniken der Psychiatrie und Psychosomatik, eine Lungen-Fachklinik, Reha-Einrichtungen, Seniorenheime oder Häuser mit besonderen Wohnformen.
QM-Chefin Heike Anders erläutert das Vorgehen am Beispiel unseres DGD Krankenhauses Sachsenhausen: „Die Risikobereiche dort sind die Notaufnahme, die Intensivstation und die Rezeption. Dort könnte es zu Gewalt von Patienten gegenüber Mitarbeitenden ebenso kommen, wie auch umgekehrt.“ Das Krankenhaus liegt direkt am „Party-Kiez“ Frankfurts und auch nur einen Steinwurf vom Main entfernt. Zudem verfügt Frankfurt über eine „offene Drückerszene“ – daher haben die Mitarbeitenden in der Notaufnahme es sehr häufig mit multi-intoxikierten Patienten zu tun: Alkohol, Drogen in vielen Ausprägungen und häufig alles zusammen. Dieser Mix fördert die Aggressionen und lässt die Hemmschwelle sinken.
In unserem „Schwester-Krankenhaus“ in Sachsenhausen hat vor allem ein Vorfall ganz viel ins Rollen gebracht, der sich vor gut drei Jahren ereignete, wie der stellvertretende Pflegedirektor Thomas Anderson erläutert. Denn er war damals „live“ dabei. „Ein Patient mit einer drogeninduzierten Schizophrenie wurde behandelt. Zunächst war er ganz ruhig – doch dann eskalierte er regelrecht, wurde massiv aggressiv und hat innerhalb kürzester Zeit vier Mitarbeitende handlungsunfähig gemacht“, sagt er.
Der Mann ist aufgesprungen, „hat eine Internistin durch eine Tür geschlagen“. Ein Pfleger rannte gemeinsam mit einem Arzt zur Hilfe, eine weitere Kollegin hat andere Patienten in Sicherheit gebracht. Der Arzt musste mehrere Faustschläge ins Gesicht einstecken, aber: „Der Patient war nicht zu bändigen. Er riss einen an einer Kette befestigten Stempel aus der Wand und verwendete diesen wie einen Morgenstern, schlug damit um sich und traf jeden, der ihm zu nahe kam“, so Anderson.
Das Team löste einen Notruf zur Polizei aus, die setzte einen Funkspruch ab – und zum Glück waren Spezialkräfte ganz in der Nähe des Krankenhauses. Die Polizisten stürmten innerhalb kurzer Zeit mit sechs Kräften die Notaufnahme und trieben den Angreifer unter dem Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray in die Ecke. „Der Mann war offenbar durch Amphetamine jedoch so stark aufgeputscht, dass er weiter um sich schlug. Die Polizisten konnten ihn letztlich nur mittels eines Tasers außer Gefecht setzen.“
Seither ist in der Notaufnahme vor Ort viel geschehen: Es gibt einen Sicherheitsdienst, Notrufknöpfe in Behandlungsräumen, tragbare Alarmknöpfe und zwei Räume mit elektronisch gesicherten Schlössern, die quasi als „Panic-Room“ verwendet werden können. Zudem wurde – wo zulässig – eine hochauflösende Videoüberwachung installiert. Auch wurden auf den ersten Blick unscheinbare Dinge eingeführt – wie der Verzicht auf Glasflaschen, „weil die schnell zur scharfkantigen Waffe werden“. Zudem gibt es ein verpflichtendes De-Eskalationstraining für Notaufnahme, Rezeption und alle Bereitschaftsdienstärzte und außerdem freiwillige Selbstverteidigungskurse.
Und wie sieht es in der Notaufnahme in Wehrda aus? „Solch schlimme Situationen erleben wir hier zum Glück nicht“, sagt Krankenhaus-Geschäftsführer Sebastian Spies. Daher sei die Notaufnahme dort nicht „aufgerüstet“ worden. Aber auch Spies weiß: „All diese Schutzmechanismen senden sowohl an die Patienten als auch an die Mitarbeitenden ein deutliches Signal: Sie können sich so sicher wie möglich fühlen.“
Sicherheit: Das ist auch Ziel des Gewaltschutzkonzepts, das in all unseren Häusern eingeführt wurde. Mehrere DGD-Einrichtungen hätten bereits Gewaltschutzkonzepte in unterschiedlichen Ausprägungen, jeweils auf ihr Haus abgestimmt. „Doch gab es bisher keinen Rahmen. Den wollten wir schaffen: Er muss verbindlich eingehalten werden“, sagt Heike Anders. „Und er legt fest, dass jedem Fall, der auch nur als Verdacht gemeldet wird, garantiert nachgegangen wird.“ Darüber hinaus müsse jedes Haus für sich weiterhin die individuellen Risiken analysieren und entsprechend handeln.
Konzept zeigt zahlreiche Beispiele von Gewalt auf
In unserem Gewaltschutzkonzept wird detailliert und anhand zahlreicher Beispiele aufgezeigt, welche Formen von Gewalt es gibt: Von der physischen oder psychischen Form über sexuelle Gewalt oder sexuelle Belästigung bis hin zur Vernachlässigung. Den Mitarbeitenden werden auch die Stufen von Gewalt aufgezeigt. Diese reichen von der Grenzverletzung über Übergriffe bis hin zu strafrechtlich relevanten Handlungen.
Szenarien mit unterschiedlichen Tätern und Opfern sensibilisieren nicht nur dafür, wo und in welcher Form Gewalt auftreten kann, sondern geben auch Beispiele dafür, wie drohende Gewalt erkannt werden kann. Kennen Sie zum Beispiel die „STAMP“-Zeichen? Die Abkürzung steht für „Staring and eye contact“ (also das Anstarren des Gegenübers mit Suchen des Augenkontakts), „Tone and volume of voice“ (eindringliche, laute Stimme) und „Anxiety“ (Furcht und Sorge des Gegenübers). Zu den Anzeichen gehören auch „Mumbling“ (Gemurmel) sowie das „Pacing“ (unruhiges Auf- und Abgehen).
Zudem werden in dem Konzept verschiedene Präventionsstufen ebenso thematisiert, wie die Aufklärung von Taten oder die Rehabilitation von zu Unrecht Verdächtigten. Und: Den Mitarbeitenden werden die Grundregeln der Deeskalation an die Hand gegeben.
Ein Kern des umfangreichen Konzepts, an dem Heike Anders und Madeline Boß ein gutes Vierteljahr gearbeitet haben, ist der verbundweit gültige Verhaltenskodex, dem sich die Mitarbeitenden verpflichten. Das Rahmenkonzept Gewaltschutz der DGD Stiftung wurde zudem in eine Dienstanweisung gegossen, an die sich alle Mitarbeitenden zu halten haben.
Und das alles für unser wichtigstes Ziel: Den Schutz unserer Patienten, Besucher und Mitarbeitenden.