Wenn der Körper schreit

Andrea Freund

Als Andrea Freund am letzten Tag ihres dreiwöchigen Aufenthalts im DGD Diakonie-Krankenhaus Wehrda aus der Behandlung in den Pflegestützpunkt der Station kommt, ist sie völlig beschwingt. „Das hätte ich nicht für möglich gehalten“, schwärmt sie, „die Schmerzen sind nahezu weg“. Und das ist nicht selbstverständlich. Stechend. Pochend. Ziehend. Mal ganz präsent im Vordergrund, mal als „immerwährendes Hintergrundrauschen“. Andrea Freund kennt alle Formen des Schmerzes. Denn seit fünf Jahren leidet die 50-Jährige an unerträglichen und permanent vorhandenen Schmerzen und hat nun in Wehrda das Programm der „Multimodalen Schmerztherapie“ (MMS) durchlaufen – eine Besonderheit des Krankenhauses in Wehrda.

Hinter dem sperrigen Namen verbirgt sich der Ansatz, dass sich Mediziner nicht nur um die rein physische Ursache des Schmerzes kümmern – sondern das Team der Schmerztherapie den Menschen ganzheitlich betrachtet.

„Wir schauen also auch auf das soziale Umfeld oder die psychologische Disposition“, erläutert Chefarzt und Ärztlicher Direktor Dr. Timon Vassiliou. Denn all diese Faktoren haben auch einen Einfluss auf den Verlauf der Schmerzkrankheit. „Schmerzerkrankungen sind sehr komplex, und es stellt sich ja immer auch die Frage, warum bei einem Patienten eine Verletzung folgenlos ausheilt – und ein anderer mit derselben Verletzung dann einen chronischen Schmerz entwickelt“, erläutert Vassiliou. „Wir wollen den Patienten zeigen, dass es Möglichkeiten gibt, die Schmerzkrankheit zu beherrschen und die Symptome zu verbessern“, sagt der Mediziner, „insbesondere durch Bewegung und spezielle Übungen“. Darauf fußt dann auch die zweite Säule, die in dem Konzept einen großen Raum einnimmt: die Physiotherapie. „Und die dritte Säule ist der Umgang mit Schmerz und die Schmerzverarbeitung – darum kümmern sich Psychologen, die ausschließlich auf diesem Gebiet arbeiten und eine entsprechende Erfahrung haben.“ Vervollständigt wird das Angebot, das auch Elemente der Traditionellen Chinesischen Medizin einfließen lässt, sowie durch Kunst- oder Musiktherapeuten. Und die Leidenswege der Patientinnen und Patienten sind immer unterschiedlich – haben eines aber häufig gemeinsam: Sie sind sehr lang.

So, wie bei Andrea Freund. „Das Ganze fing vor sieben Jahren an, da hatte ich mit der Halswirbelsäule große Probleme und so starke Schmerzen, dass ich zu Hause Therapien bekam.“ Doch niemand wusste, wie man den Schmerz bei der Patientin noch eindämmen konnte. Also kam sie zum ersten Mal in die MMS, absolvierte die Therapie und wurde im Nachgang vor fünf Jahren noch operiert. „Danach war ich weitestgehend beschwerdefrei. Mir ging es deutlich besser und bin daher wahrscheinlich wieder in alte Verhaltensmuster zurückgefallen – denn es ging mir ja gut“, sagt sie.

Doch ein halbes Jahr später kamen die Schmerzen zurück. „Es fing mit dem Knie an, dann weitete sich der Schmerz auf das ganze Bein aus.“ Später kam das zweite Bein hinzu, „und so ging es immer weiter, bis ich in einem Ganzkörper-Schmerz gelandet bin“. Die Verzweiflung der Patientin war groß, es folgte eine Odyssee an Arztbesuchen, Röntgen- und MRT-Terminen sowie Untersuchungen, „immer mit dem Ergebnis: Ich bin gesund. Das hat mich auch psychisch stark belastet, denn ich habe ja gemerkt: Mein Körper schreit, aber niemand konnte mir sagen, warum.“

Ärzte verschrieben Andrea Freund die verschiedensten Medikamente, „aber nichts hat geholfen. Im Gegenteil: Durch die Nebenwirkungen wurde es noch schlimmer. Und der Schmerz war immer präsent.“ Eine Neurologin diagnostizierte, dass mit Freunds Nerven alles in Ordnung sei – doch habe sie den Verdacht, die Patientin leide unter Fibromyalgie, also einer Erkrankung mit tiefen Muskelschmerzen, Erschöpfung und Schlafstörungen. Daher solle sie zu einem Schmerztherapeuten gehen. „Das habe ich dann getan. Ich habe meinen ehemaligen Schmerztherapeuten, den ich noch von meinem ersten Aufenthalt in der MMS kannte, kontaktiert – in der Hoffnung, dass er mir helfen konnte.“ Quasi als letzte Rettung, „ich war wirklich absolut verzweifelt. Ich habe mein Lachen verloren. Habe mich von meinen Sozialkontakten zurückgezogen, um viel zu schlafen und Kraft zu tanken, meine Familie hat gelitten und im Berufsleben wurde es kompliziert“, berichtet sie von ihrem Leidensweg. Tagsüber habe es durch die Tätigkeiten im Beruf noch Abwechslung gegeben, „der Schmerz war zwar immer da, aber er stand nicht so prägnant im Vordergrund“, sagt Andrea Freund. Doch nachmittags und auch nach Feierabend stieg das Schmerzlevel wieder an. „Je mehr ich zur Ruhe kam, desto schlimmer wurde es.“ Die 50-Jährige wusste dann nicht mehr, wie sie sitzen oder liegen sollte. „Bloß nicht bewegen“ lautete das Motto in den Nächten – was zu Schlaflosigkeit und anhaltender Erschöpfung führte. „Ein Teufelskreis“, sagt sie. Doch den hat Andrea Freund mit der MMS nun durchbrochen. „Es ist wie ein Wunder: Als ich herkam hatte ich auf einer Skala von eins bis zehn ein Schmerzlevel von sieben“, sagt sie – „nun liegt es bei zwei, damit hätte ich niemals gerechnet“. 

Und welche Schritte hat sie dafür in der MMS durchlaufen? „Zunächst muss jedem klar sein, dass der Schmerz durch die Therapie nicht verschwindet. Aber er rückt in den Hintergrund und ist nicht mehr das bestimmende Element im Leben.“ Doch bei der täglichen Visite könne man alles, was einem auf dem Herzen liege, ansprechen, „es wird auf jedes kleine Thema eingegangen“, sagt Andrea Freund. 

Dass der Schmerz nicht mehr alles dominiert, hat die 50-Jährige durch eine Vielzahl an Therapien erreicht. „Akupunktur schlägt bei mir sehr gut an – egal, ob Ganzkörper- oder energetische Akupunktur. Und auch die Langzeit-Akupunktur mit kleinen Pflaster-Nadeln im Ohr, am Nacken oder an den Füßen hilft mir sehr gut.“ Das Schröpfen hat sie während der Therapie kennengelernt, „eine große Hilfe bei meinem Lipödem, ebenso, wie die Lymphdrainage“, sagt sie. Aber auch die nadellose, japanische Akupunkturmethode Shonishin, bei der ein stiftähnliches Instrument zum Einsatz kommt, mit dem der Körper „ausgestrichen“ wird, „hat mir ebenfalls gut geholfen, davon bin ich komplett begeistert“.

Aber nicht nur die fernöstliche Medizin kommt während der MMS zum Einsatz: Die Ernährung wird während der Therapie ebenfalls unter die Lupe genommen und auf die Person angepasst, was ebenfalls zur Entspannung beiträgt. Zweimal die Woche gibt es Physiotherapie, Entspannungsübungen werden angeboten, zudem steht an zwei Terminen in der Woche Nordic Walking in der Gruppe auf dem Therapieplan, „Bewegung in der Natur ist immer gut, die Natur stellt den Schmerz nach hinten – es wird auch bildlich gesagt, man trägt einen Rucksack und packt den Schmerz dort hinein. Ich trage ihn nicht mehr vor mir her.“ Hilfreich ist auch die Kunsttherapie – beim Malen oder Töpfern ist die Ablenkung da. „Aber daraus wird sich für mich kein neues Hobby entwickeln“, sagt Andrea Freund lachend.

Abgerundet wird die MMS durch Einzel- und Gruppentherapie, um die psychologischen Aspekte des Schmerzes anzugehen – „was macht der chronische Schmerz mit uns und wie können wir ihn in den Hintergrund rücken? Es wurde uns zum Beispiel erklärt, dass wir uns den Schmerz, wenn er mal wieder unerträglich wird, packen, auf den Tisch legen und ihn uns bildlich vorstellen. Das hilft mir persönlich sehr beim Verarbeiten.“

Und was nimmt Andrea Freund jetzt mit? „Einen großen Werkzeugkoffer, in den ich immer greifen kann, wenn der Schmerz mich überwältigt“, sagt sie. „Ich bin einfach dankbar dafür, dass ich jetzt viele Momente der Schmerz-Erleichterung erfahre.“ Medikamente spielen zwar weiterhin eine Rolle, „aber eine viel kleinere als zuvor“.

Andrea Freund weiß: „Diese Krankheit wird nicht mehr weggehen, sie wird bleiben und sich in einigen Jahren vielleicht auch verschlimmern. Aber im Moment bin ich einfach nur dankbar für die Therapien, die ich erhalten habe. Es geht mir deutlich besser als vor drei Wochen und ich nehme unheimlich viel mit zurück in mein tägliches Leben.“ Dabei habe auch das Alltagstraining geholfen – „mit praktischen Übungen, um die erlernten Strategien wann immer nötig anzuwenden“. 

Zurück